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Neues Programmschema beim BR

Ab Ostern ändert sich das Programmschema des BR. Der Mittwochskimi wird jetzt am Samstag gesendet. Freitags wird hör!spiel!art.mix eine Stunde vorgezogen.

1 Hörspiele mit Autor = »Schaerf« und Titel = »Stimme«

Die Stimme des Hörers

Autor(en): Eran Schaerf
Produktion: BR 2001 41 Min. (Stereo) - Originalhörspiel dt.
Regisseur(e): Eran Schaerf
Inhaltsangabe: "Hier ist Die Stimme des Hörers, ein von einem automatischen Moderator betriebener Rundfunksender für Höreranrufe. Die Stimme des Hörers sendet abwechselnd auf gekauften und nicht in Betrieb genommenen Frequenzen. Sie finden den Sender, indem Sie beim Zuhören auf der FM-Skala auf und ab wandern. Wenn es keine Anrufe gibt, schaltet der automatische Moderator um auf Sendersuche. In diesem Fall werden Sie hören, was immer in Ihrem Empfangsbereich zu finden ist. Die Stimme des Hörers ist für den Inhalt der gesendeten Beiträge nicht verantwortlich. Die Sprache der Sendung, der Stil und die Länge des Gesprochenen hängen von den Hörern ab. Identifizieren Sie sich als ich, sie, er oder es - Die Stimme des Hörers ist für die Wiedergabe von identifizierenden Angaben nur begrenzt eingerichtet. Ihr Beitrag wird nicht aufgezeichnet.
Zwei Programme assistieren dem automatischen Moderator und können von Ihrem Beitrag aktiviert werden: das Register und der Index. Das Register beinhaltet Daten wie Namen von Personen, Orten, Kriegen, Zeitungen, sowie Szenario-Funktionen. Gelegentlich ersetzt das Register die Wiedergabe der Namen durch die Angabe Soundso, fügt zu den von Ihnen erwähnten Daten Alternativen hinzu oder informiert Sie über weitere Nutzungsmöglichkeiten der Stimme des Hörers. Der Index ist auf die Erkennung von Wortwiederholungen oder Wortkombinationen programmiert. Wenn er sie als einen Versuch erkennt, Ihrerseits eine Diskussion zu programmieren, meldet er die wiederholten Wörter und beginnt erneut mit dieser Ansage. Unmittelbar darauf wechselt Die Stimme des Hörers die Frequenz.
Die Stimme des Hörers ist ein adressenloser Ort am Rande der Demokratie. Das Zielpublikum ist per definitionem nicht vorhanden. Der Sender wird ermöglicht durch die großzügige Unterstützung des Visacard-Inhaber-Clubs und der Gastarbeiter-Gesellschaft für Visa-Antragsteller. Um weitere Spenden wird nicht aufgerufen. Die Stimme des Hörers im FM-Wechsel."

Es existiert eine 70-Minuten-Fassung des Hörspiels, die bisher nur einmal vom Bayrischen Rundfunk im Rahmen der Musiksendung "Art Mix" gesendet worden ist. "Gültig" ist die 40 Minuten-Version.
Expertenkommentar: Hörspiel des Monats März 2002 - Begründung der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste:
"Die Stimme des Hörers" ist die Vision eines perfekten digitalen Rundfunksenders. Zu hören ist ausschliesslich ein automatischer Moderator (Peter Veit), der Inhalt und Funktionsweise des Programms erklärt, den Hörern seine Stimme leiht und Interaktivität fingiert.
Tatsächlich ist das vorgestellte Programm eine Matrix, die auf Input von aussen nicht angewiesen ist. Eingehende Höreranrufe werden manipuliert, bleiben sie aus, wird die Frequenz gewechselt. Das Programm genügt sich selbst, wobei seine konkrete Ausformung unklar bleibt. Als hochgradig funktionalisierbares Formatradio könnte es ebenso als Werbeplattform wie als Notprogramm für Krisenfälle dienen.
Eran Schaerf spielt in diesem Zusammenhang auf den Palästinakonflikt an. Die nachhaltige Irritation der Hörer rührt aus der prinzipiellen Unbestimmtheit des Programms, seiner Selbstreflexivität und daher, dass man nie weiss, in welcher Funktion der automatische Moderator spricht - ob als Stimme eines Hörers, als elektronische Bedienungsanleitung oder Programmsimulation im Testlauf. Ohne jegliche akustische Illustration entwickelt das hochartifizielle und packende Stück eine Welt, in der es kein Jenseits des Mediums zu geben scheint.

Hörspiel des Jahres 2002 - Begründung der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste:
Bei der "Stimme des Hörers" in Eran Schaerfs gleichnamigem Hörspiel handelt es sich um die zu Ende gedachte Vision eines autonomen, computergesteuerten Talkradio-Senders, dessen Programm ausschließlich von Höreranrufen bestimmt werden soll. Zu hören ist das ganze Stück lang jedoch nur eine einzige Stimme. Diese fungiert, modulationsarm und künstlich intoniert, als "automatischer Moderator", der das Prinzip des Senders, d.h. die Funktionsweise seiner Software erklärt, Fehlermeldungen absetzt und Hackerangriffe auf das System meldet. Dieselbe Stimme, die keinem Schauspieler, sondern dem BR-Nachrichtensprecher Peter Veit gehört, spricht auch in unterschiedlichen Haltungen sämtliche Höreranrufe und Fremdprogramme, auf die sich "Die Stimme des Hörers" im Frequenzwechsel aufschaltet, wenn keine Anrufe eingehen oder diese zu redundant werden.
Ohne Pausen, Überleitungen oder Erklärungen muss sich der Hörspielhörer in diesem spröden Wortschwall orientieren und kann sich niemals sicher sein, ob es sich bei den vorgetragenen Texten um authentisches, manipuliertes oder rein fiktives Material handelt.
Diese Irritation führt den vorgeblichen Anspruch von Talkradio ad absurdum, als Stimme der Hörer das denkbar demokratischste Medium zu bilden. Vielmehr könnte "Die Stimme des Hörers" auch als Werbeplattform oder Notfallprogramm für Krisensituationen dienen.
Als im Wortsinne utopischer, nämlich ortloser, Sender ist "Die Stimme des Hörers" nicht einmal auf dem Frequenzband zu fixieren - ein, wie es im Stück heißt - adressenloser Ort am Rande der Demokratie. So ortlos der Sender, so offen ist die Struktur des Stückes, dessen Passagen als "Hörbausteine", per automatisiertem cut & paste immer neu angeordnet werden können.
Die kalkulierte Verwirrung des Hörspielhörers auf seiner akustischen Schnitzeljagd durch die authentischen und bisweilen absurd komischen Höreranrufe bereitet intellektuelles Vergnügen.
Eran Schaerfs vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Radio fordert die Reflexion der eigenen Hörgewohnheiten heraus. Zugleich schärft das Stück nachhaltig die Aufmerksamkeit für allgegenwärtige mediale Inszenierung von Öffentlichkeit.

Laudatio zum Hörspiel des Jahres:
Guten Tag. Sie hören die Laudatio zu Eran Schaerfs: "Die Stimme des Hörers".
[...]
Als wir im März "Die Stimme des Hörers" zum "Hörspiel des Monats" wählten, war ihr direkter Konkurrent "Rosebud" von Christoph Schlingensief. Wir habe es mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet und gerade hat es den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekommen. Und wenn man Schlingensief letztendlich der Gattung Pophörspiel zuordnen kann, so handelt es sich bei der "Stimme des Hörers" geradezu um ein Anti-Pop-Hörspiel. Gegenüber der Schlingensiefschen Exaltation setzt Eran Schaerf auf Reduktion und verweigert jedes Zugeständnis an die Hörgewohnheiten des normalen Nebenbei-Radiohörers, wie auch des passionierten Hörspielhörers. Keine Musik illustriert das Geschehen, nicht einmal die schrägen Celloklänge, die als Hochkultursignale regelmäßig den unbändigen Impuls umzuschalten auslösen. Keine An- oder Abmoderation sagt: "Achtung, Kunst". Kein Schauspieler wurde eingesetzt, dessen typischen Hörspielsprech man schon an den Atmern erkennt. Die einzige Stimme gehört Peter Veit, einem Nachrichtensprecher des Bayerischen Rundfunks. Wir hatten also das Glück, ein Stück von Eran Schaerf prämiieren zu können, das seine Konzeption in reinster Form verwirklicht. Denn in seinen früheren Stücken, die unter anderem zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Eva Meyer entstanden sind, gibt es das alles: Anmoderationen, Schauspieler und Musik.
Das Testbild, das Sie im Hintergrund sehen, gehörte zur Installation der "Stimme des Hörers" und war unter anderem auf der "intermedium 2" zu sehen, dem vom Bayerischen Rundfunk organisierten "Festival für Hörspiel, Netzkunst und intermediale Installationen". Testbilder enthalten technische Daten, mit denen die Qualität der Übertragung gemessen wird und - in der Regel - sender-identifizierende Merkmale. In dieses Testbild ist in der Mitte eine "Leerstelle für nicht-technische Daten" eingebaut.
Der Sender "Die Stimme des Hörers" ist ein ähnlicher Datenstrom wie dieses Testbild. Gesteuert wird er von einem vollständig autonomen AudioProzessor, der analog zum WordProcessor nicht per cut & paste nicht Text- sondern Hörbausteine verschiebt und neu anordnet. Modulationsarm und mit weggeschnittenen Atmern betont ,künstlich' erklärt der "automatische Moderator" das Prinzip des Senders, erläutert die Funktionsweise der Software, setzt Fehlermeldungen ab und meldet Hackerangriffe auf das System. In anderen Sprechhaltungen nimmt Peter Veit als die Stimme der "Stimme des Hörers" Anrufe entgegen oder tätigt sie gleich selbst. Nur der Wechsel der Sprechhaltungen und die rhythmische Struktur des Textes von kalkulierter Verwirrung und ebenso kalkulierten Redundanzen, erlauben es dem Hörspielhörer, sich in dem Beginn- und übergangslosen Wortschwall zu orientieren. Er kann sich niemals sicher sein, ob das spröde und sperrige Material der vorgetragenen Texte authentisches, manipuliertes, rein fiktives oder überhaupt das eines ganz anderen Senders ist. Diese Irritation führt den vorgeblichen Anspruch eines Talkradios ad absurdum, als Stimme der Hörer das denkbar demokratischste Medium zu bilden. Das Medium prozessiert die Welt nach seinen eigenen Algorithmen. Sobald die Steuerungssoftware feststellt, das jemand versucht, eine eigene Diskussion zu ,programmieren' werden die Daten wie Namen von Personen, Orten, Kriegen usw. durch "Soundso" ersetzt oder diesen Daten Alternativen hinzugefügt. Anschließend wechselt der Sender die Frequenz. Als im Wortsinne utopischer, nämlich ortloser, Sender ist "Die Stimme des Hörers" nicht einmal auf dem Frequenzband zu fixieren. Er ist, wie es im Stück heißt - ein adressenloser Ort am Rande der Demokratie. "Die Stimme des Hörers" könnte ebenso gut eine Werbeplattform wie ein Notprogramm für Krisenfälle sein. Wer hinter dem Sender eine antidemokratische Verschwörung vermutet, sieht sich getäuscht. Nicht einmal die Finanziers des Senders (der Visacard-Inhaber-Club und die Gastarbeiter-Gesellschaft für Visa-Antragsteller) könnten gegen die Algorithmen der Software, d.h. die selbstreferenzielle Operationsweise des Mediums ihre Interessen durchsetzen. Und vielleicht ist eine der beiden Organisationen nur eine alternative Adresse, die der Sender aus "vergnügungspolitischen Gründen" hinzugefügt hat.
Möglicherweise ist Eran Schaerfs Stück die Antwort auf die Frage, was dabei herauskommt, wenn die Forderung aus Brechts Radiotheorie erfüllt ist, und aus dem Distributionsapparat Radio einen Kommunikationsapparat geworden ist und aus den Konsumenten Produzenten. Bei jedem Wiederhören des Stückes erfährt man Mehr und Anderes über die Komplexe Medium und Form, Identität und Identifizierung, Automatisierung und Freiheit. Die Inhalte eines automatisierten Hörfunkprogrammes wie der "Stimme des Hörers" sind prinzipiell unbestimmt. Ein Jenseits der Medien scheint es nicht zu geben, und das lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie Eran Schaerf in seinem Stück die "Leerstelle für nicht-technische Daten" gefüllt hat. Denn in seinem Kunstwerk sind die Inhalte alles andere als beliebig. Der hochartifiziellen Konstruktion korrespondiert eine enorme Welthaltigkeit. Bei aller Verweigerung gegenüber Identifizierung und Verortung verweisen unterschiedlichste Realitätspartikel auf die aktuelle politische Situation in Israel. Das Ausgangsmaterial ist authentisch, und je unwahrscheinlicher seine Anmutung, desto realer ist es. Als zum Golfkrieg die orthodoxen Rabbiner auch für die Strenggläubigen den Radioempfang freigaben, stellte sich das Problem, das Programm geschlechtsspezifisch aufzuteilen - einen halben Tag mit männlichen Sprechern für männliche Ohren, einen halben Tag mit weiblichen für weibliche Ohren. Natürlich fragt sich der aufgeklärte Westler und der säkularisierte Israeli sofort, wie sich ein monosexuelles Programm von einem homosexuellen unterscheidet. Und weil sich der Sender für einen falsch platzierten Werbespot einer koscheren Hyperbäckerei am falschen Ort entschuldigt, manövriert ein Anrufer den Sender syllogistisch in eine heillose No-Win-Situation von absurder Komik.
Die Anklage vor dem Den Haager Kriegsverbrechertribunal gegen einen israelischen Soldaten, der, als Palästinenserin verkleidet, in Kampfhandlungen verwickelt wurde, schreibt die Realität in einer möglichen Zukunft fort. Die Empfehlung, den Soldaten eine Schauspielausbildung zukommen zu lassen, um die Identifikation mit einer Rolle zu vermeiden, führt zurück zu einem der Hauptthemen des Stückes, nämlich, dass Selbstbestimmung und Selbstfiktionalisierung einander ausschließen. Trotz der offenen und prinzipiell endlosen Struktur schließt der letzte Satz des Hörspiels wieder genau am Beginn an und so findet das Stück paradoxerweise zu einer geschlossenen Form: "Warum" fragt am Schluss ein Hörer, "hören Sie mir dieser automatischen Demokratie nicht auf und stellen jemanden ein, der in einer total persönlichen Sprache moderieren wird?" Medium, Form und Inhalt der "Stimme des Hörers" sind untrennbar miteinander verbunden. Das Stück betreibt keine Medienkritik von einem angeblich außermedialen Standpunkt, sondern macht im Vollzug die Operationsweise des Mediums Radio hörbar. Dabei schließt es an Traditionen des sprachexperimentellen Neuen Hörspiels an, allerdings ohne deren manchmal unangenehme emanzipatorische Didaktik.
"Was wir über die Welt wissen, wissen wir über die Massenmedien", sagt Niklas Luhmann. Was wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts über das Massenmedium Radio wissen können, können wir bei Eran Schaerf hören. Dafür haben wir die "Stimme des Hörers", eine Produktion des Bayerischen Rundfunks, des Zentrums für Kunst und Medientechnologie und der intermedium 2 zum Hörspiel des Jahres 2002 gewählt. (Jochen Meißner)
Mitwirkende:
Peter Veit
Links: Mailformular für Ergänzungen zu diesem Titel
Druckausgabe (PDF)

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